Zum Hauptinhalt springen

[PDF 218kB]

Friedensgebet am 01. August 2016

„Wenn der Staat zum Rächer wird – die Türkei, die Todesstrafe, der Terror“

Predigt von Pfarrer i. R. Christian Wolff in der Nikolaikirche Leipzig

Lesung:

Und Adam hatte die Eva, seine Frau, erkannt, und sie wurde schwanger, und sie gebar den Kain, und sie sprach: Ich habe einen Mann erschaffen mit Gott. Und sie gebar weiter, nämlich seinen Bruder, den Abel. Und Abel wurde ein Kleinviehhirte, und Kain wurde ein Ackerbauer. Und es geschah nach einiger Zeit, da brachte Kain von den Früchten des Erdbodens ein Opfer dar für Gott. Und Abel - auch er brachte dar von den Erstlingen seiner Herdentiere und von ihrem Fett, und Gott blickte wohlgefällig auf Abel und auf sein Opfer. Und auf Kain und auf sein Opfer blickte er nicht wohlgefällig. Da ergrimmte Kain sehr, und er ließ sein Angesicht fallen. Und Gott sprach zu Kain: Warum ergrimmst du, und warum lässt du dein Angesicht fallen Ist es nicht so: Wenn du es gut machst, ist Erheben (d.h. trägst du die Nase hoch), aber wenn du es nicht gut machst, liegt die Sünde vor der Tür auf der Lauer, und nach dir hat sie Verlangen, du aber sollst über sie herrschen. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel ... (Es ist interessant, dass wir hier nicht erfahren, was Kain zu seinem Bruder gesagt hat. Offensichtlich ist dies für die Geschichte unerheblich.) Und als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen Abel, seinen Bruder, und tötete ihn. Da sprach Gott zu Kain: Wo ist Abel, dein Bruder? Und er sprach: Ich weiß es nicht, bin denn meines Bruders Hüter ich? Gott aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde her. Und jetzt: Verflucht bist du! Weg vom Erdboden, der seinen Mund aufgetan hat, aufzunehmen das Blut deines Bruders von deiner Hand. Ja, du wirst den Erdboden bebauen, er aber wird dir seine Kraft nicht mehr geben; unstet und flüchtig wirst du sein auf der Erde. Da sprach Kain zu Gott: Zu groß ist mein Vergehen und seine Folge, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du vertreibst mich heute vom Angesicht des Erdbodens, und vor deinem Angesicht muss ich mich verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf der Erde, und es wird so sein, dass jeder, der mich trifft, mich töten kann. Da sprach Gott zu ihm: Nicht so, sondern wer Kain erschlägt, an dem soll es siebenfach gerächt werden. Und Gott machte dem Kain ein Zeichen, dass ihn niemand tötete, der ihn träfe. Da ging Kain weg vom Angesicht Gottes. Kain wohnte im Lande „Flüchtigkeit“, jenseits von Eden, gegen Osten. Und Kain schlief mit seiner Frau, und sie wurde schwanger und gebar einen Sohn Hennoch. Und Kain wurde der Erbauer einer Stadt und nannte sie nach dem Namen seines Sohnes Hennoch.

(1. Mose 4,1-17 - nach der Übersetzung von Jürgen Ebach)

Ansprache:

Was für ein Sommer: Brexit, terroristische Anschläge auch in Deutschland, Kriege in der arabischen Welt, doppelter Putsch in der Türkei. Alles riecht nach Nationalismus, nach Gewalt, nach Grenzen und Mauern, nach Volkszorn statt Demokratie. Wie da Haltung bewahren und Orientierung gewinnen? Wir haben das große Glück, auf die biblische Botschaft zurückgreifen zu können. Diese beinhaltet einen großen Schatz. Dazu gehören die ersten 11 Kapitel aus dem 1. Buch Mose, die sog. Urgeschichte. Diese beinhaltet auch die Erzählung von Kain und Abel, die wir gehört haben. Auf ihrem Hintergrund können wir uns die Wirklichkeit neu erschließen: „Wenn der Staat zum Rächer wird“ … Wenn sich ein Staat das Recht herausnimmt, den Tod als Strafe einzuführen, oder wenn sich Terrorgruppen anmaßen, darüber zu entscheiden, wer leben darf und wer nicht - spätestens dann sollten wir diese monströs-blasphemische Überheblichkeit konfrontieren mit dem, was wir in der Bibel über Kain und Abel erfahren.

Die beiden Brüder Kain und Abel bringen ihr Opfer dar, auf Sichtweite - der eine Früchte des Feldes, der andere die Erstlinge der Herdentiere. Von diesem Moment an spielt sich zwischen Kain und Abel etwas ab, was die menschliche Existenz bestimmt in der Familie, im Beruf, in der Gesellschaft: der Konkurrenzkampf, die Eifersucht. Kain ist frustriert über seinen geringen Erfolg. Nun wird es gefährlich - für Kain und für Abel. Und als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen Abel, seinen Bruder, und tötete ihn. Wer - wie Kain - Misserfolg zu ertragen hat, mehr noch, wer bei seinem Bruder sieht, dass das Leben auch Erfolg bietet, der mir aber versagt bleibt, wer im Konkurrenten nur noch den Feind sieht, der ist oft genug überfordert, diese Unterschiedlichkeit von uns Menschen zu akzeptieren.

Wem es wirtschaftlich und sozial nicht so gut geht, der hat es eben schwerer mit der Toleranz, mit der Anerkennung des Erfolges des anderen. Dann geschieht genau das, was in der alten Erzählung so treffend geschildert wird: wie wir Menschen für unseren Frust einen Sündenbock suchen, alles auf ihm abladen und mit ihm unsere Probleme beseitigen wollen.

Kain will das Problem, das er mit sich und seinem Bruder hat, auch vernichten, Abel einfach aus dem Weg räumen, verschwinden lassen: Problemlösung durch Problemvernichtung – und danach alle Spuren beseitigen. Doch mit einer kleinen Frage durchkreuzt Gott diese so hilflose, bis heute weltweit angewandte Strategie und bringt alles wieder ans Tageslicht:

Wo ist Abel, dein Bruder? Kain versucht sich herauszuwinden: Ich weiß es nicht, bin denn der Hüter meines Bruders ich? Verdrängen gehört zur Gewalttat, aber auch Scheinheiligkeit und Verlogenheit: Was habe ich mit meinem Bruder zu schaffen? Was geht mich sein Tod an? Wieso soll ich Hüter sein? Tausendfach rechtfertigen wir mit dieser Frage unser Nichtstun und unser Zuschauen. Doch Vorsicht! Es gibt dann auch die scheinheilige Umkehrung der Frage: „Ich bin nur noch meines Bruders Hüter!“ Das ist genauso fatal! Sich nur noch zuständig fühlen für die Allernächsten. Arbeitsplätze nur für Deutsche! Bei uns gibt es schließlich genug Arme, um die sollen sich die Politiker kümmern und nicht um die Geflüchteten und Asylbewerber!

Doch Gott stellt uns, stellt Kain zur Rede: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde her. Vor Gott lässt sich nichts verbergen - keine Gewalttat, kein Hinnehmen, keine Scheinheiligkeit. Nichts von dem, was Kain getan hat, kann ungeschehen gemacht werden. Das Blut der Gemordeten, der zum Tode Verurteilten schreit weiter zum Himmel. Unrecht wird auch durch zeitlichen Abstand nicht zum Recht. Auch die Verbrechen der NSU schreien weiter aus der Erde – allem Vertuschen und Vernebeln durch die Geheimdienste zum Trotz. Auch ein Völkermord an den Armeniern gerät nicht in Vergessenheit. Auch die Opfer der Terroranschläge werden weiter anklagen.

Doch bei aller Verallgemeinerung, die diese Geschichte uns abverlangt, müssen wir dennoch sehen: Hier geht es um den Wert des einzelnen Menschenlebens. Abel, der eine Mensch, ist ermordet worden, und mit ihm geht eine ganze Welt unter. Das macht dieses wie jedes Verbrechen so horrend und unverrechenbar. Für die, die ein solches Verbrechen zu ertragen haben wie die Angehörigen der Opfer terroristischer Gewalt, wird mit einem Menschenleben die ganze Welt zerstört. Mit Kain wird der eine Mensch zum Mörder. Er kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen, seine Schuld nicht auf die anderen, die Verhältnisse, die Gesellschaft schieben – so wie sich kein Mörder, auch kein Staat hinter angeblichen höheren Ideen oder religiösen Wahnvorstellungen verstecken darf.

Und jetzt verflucht Gott den Kain: Verflucht bist du, weg vom Erdboden, der seinen Mund aufgetan hat, aufzunehmen das Blut deines Bruders von deiner Hand. Ja, wie gut können wir diesen Fluch nachempfinden. Verflucht sei ein Andreas Lubitz, der im vorigen Jahr mit einem Germanwings-Flugzeuge nicht nur seinem eigenen Leben ein Ende bereitete, sondern 150 Menschen mit in den Tod riss. Verflucht sei ein David S., der in München das Leben von neun Menschen ausgelöscht hat. Und doch - bei genauem Hinsehen ist der Fluch Gottes gegen Kain keine Strafe. Denn was sich anschließt, ist zunächst die Beschreibung der Folgen der bösen Tat: Ja, du wirst den Erdboden bebauen, er aber wird dir seine Kraft nicht mehr geben; unstet und flüchtig wirst du sein auf der Erde. So sieht es aus, wenn einer den anderen umbringt. Durch Vernichtung des Lebens entsteht nichts, was heil und gut ist, was Zukunft in sich trägt. Es herrscht tiefe Einsamkeit, hartes, karges Leben, Verlust der Gemeinschaft.

Kain befällt eine panische Angst. Verzweifelt wendet er sich an Gott: Zu groß ist mein Vergehen und seine Folge, als dass ich sie tragen könnte. … vor deinem Angesicht muss ich mich verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf der Erde, und es wird so sein, dass jeder, der mich trifft, mich töten kann. Nun spürt Kain, wie das ist: der gleichen Willkür ausgeliefert zu sein, die er gegenüber seinem Bruder selbst an den Tag gelegt hat. Jeder kann ihn umbringen. Schutzlos muss er leben. Die Gemeinschaft, das bergende Recht - alles ist ihm genommen. Wäre es Kain lieber gewesen, wenn Gott ihn sofort mit dem Tode gestraft hätte?

Vorstellbar ist dies – so wie mancher unter uns Erleichterung verspürt, wenn ein Terrorist durch die Polizei getötet wird, oder wie manche meinen, dass wenigstens für Sexualstraftäter die Todesstrafe angebracht wäre. Aber das würde nur bedeuten, dass die Geschichte, wie Kain sie schreiben wollte, fortgesetzt wird: Problemlösung durch Problemvernichtung.

Doch da kommt es zu einer erstaunlichen, zur entscheidenden, zur evangelischen Wende in der Geschichte. Und allein deswegen steht diese Geschichte in unserer Bibel. Gott antwortet Kain: Nicht so, sondern wer Kain erschlägt, an dem soll es siebenfach gerächt werden. Kain, der Mensch, wird zum Mörder. Kain, der Mörder, bleibt ein Mensch. Denn Gott schützt das Leben des Mörders. Gott denkt - schon hier, auf den ersten Seiten unserer Bibel - das Böse in Gutes um, ohne das Böse zu beschönigen oder zu rechtfertigen. Wie einfach wäre es doch gewesen, Kain aus dem Weg zu räumen. Gott hätte sich viel erspart. So - wie manche meinen, sich und anderen viel zu ersparen, wenn sie die Todesstrafe fordern - jetzt in der Türkei für sog. Staatsfeinde. Wer so denkt, der vergisst: Mit der Vernichtung dessen, der seine Zukunft durch Mord und Todschlag schuldhaft verspielt, verbauen wir unsere Zukunft.

Gott durchbricht mit seiner Lebensbotschaft diesen fatalen Teufelskreis. Die Lebensbotschaft beinhaltet auch: Für Christen gibt es keine Unmenschen, wohl aber unmenschliche Taten – denn wir machen uns keinerlei Illusionen darüber, zu welchen Verbrechen wir Menschen – mit besten Absichten – fähig sind! Niemand hat also das Recht, Tod mit Tod zu vergelten. Darum ist die gesetzlich verankerte Todesstrafe immer Ausdruck der Verkommenheit einer Gesellschaft und widerspricht allem, was wir als Christen der biblischen Botschaft entnehmen können. Mehr noch: Die Todestrafe erzeugt das, was sie zu verhindern vorgibt: die gegenseitige Vernichtung. Darum kann es nur ein NEIN zur Todesstrafe geben – ob in China oder in den Vereinigten Staaten oder bald in der Türkei.

Wenn dieses Land jetzt daran geht, die Todesstrafe einzuführen, dann ist das nichts anderes als billige Rache, als Ausdruck einer herrischen Gesinnung. Nicht zuletzt widerspricht das Ansinnen Erdogans aber dem, was im Koran Abel zu seinem Bruder Kain sagt: Wenn du deine Hand nach mir ausstreckst, um mich zu töten, so werde ich meine Hand nicht nach dir ausstrecken, um dich zu töten. Ich fürchte Allâh, den Herrn der gesamten Schöpfung. (Sûra 5:28)

Diese Gottesfurcht möchte man einem Präsidenten Erdogan und mit ihm allen wünschen, die sich zum Weltenrichter erheben. Das Leben des Bösen, das Leben des Mörders, steht unter dem Segen Gottes. Die Lebensgeschichte des Kain geht weiter: Er heiratet, bekommt Kinder, wird Erbauer einer Stadt. So liegt auf seinem Leben wie auf jedem Leben beides: Fluch und Segen. Nichts davon ist zwangsläufig, nichts davon ist zufällig. Abel wird dadurch nicht wieder lebendig. Mord kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber aus Kain kann Abel werden. Das Zeichen des Kains ist plötzlich so viel wert wie das erfolgreiche Opfer des Abel. Es gibt also eine Gute Nachricht für alle Kains auf dieser Erde, für uns: Niemand braucht Kain zu bleiben, wenn er sich auf die Barmherzigkeit einlässt, die Gott dem Kain angedeihen lässt und ihm dann abverlangt. So lässt sich ein gleichberechtigtes, friedliches Zusammenleben, eben Demokratie, gestalten und so lassen sich die Menschenrechte und die Menschenwürde wahren.

Amen.