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Studentisches Engagement gestern und heute

Impulsreferat auf dem Alumni-Treffen der Universität Leipzig 25. Juni 2016

Von Pfarrer i. R. Christian Wolff

In seiner fulminanten Rede zum 20-jährigen Jubiläum der Friedlichen Revolution im Gewandhaus Leipzig am 09. Oktober 2009 bemerkte der frühere Europaabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, Werner Schulz: Die friedliche Revolution war im Kern auch eine protestantische Revolution. Denn der bahnbrechende Ruf „Keine Gewalt“ ist die prägnante Zusammenfassung der Bergpredigt …. Vorwiegend waren evangelische Kirchen das Basislager der Revolution. Nie Gewerkschaftsgebäude, Rat- oder Kulturhäuser oder gar Universitäten.

Dass die Universitäten einschließlich der Studierenden wenig mit der Friedlichen Revolution und dem Aufbruch zur Demokratie zu tun hatten, war nicht nur Folge der politischen Säuberungen insbesondere nach dem Ungarn-Aufstand 1956 und nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings 1968 sowie der jahrzehntelangen systematischen Einschüchterung durch die STASI, durch die jede Eigenständigkeit im politischen Denken und Handeln im Keim erstickt werden sollte. Es entsprach auch dem Selbstverständnis deutscher Universitäten, die sich in ihrer Mehrheit – und das gilt für Ost und West gleichermaßen - schon immer machtkonform und staatstreu, obrigkeitshörig und antidemokratisch verhielten.

So riefen Anfang März 1933 über 100 Ordinarien der Leipziger Universität zur Wahl Adolf Hitlers auf. Von daher ist es wenig überraschend, dass der bis Mitte 1990 amtierende Rektor Horst Hennig in einer Gesprächsrunde im Oktober 1992 erzählte, dass er am 09. Oktober 1989 das Unigebäude am Augustusplatz habe abschließen lassen – nicht aus Angst vor studentischem Protest. Der Grund war, dass man ja nicht wissen könne, was der „Mob auf der Straße“ alles vorhabe. Ebenso bezeichnend ist es, dass ich kaum einen Professor kenne, der den Bologna-Prozess gutgeheißen hat, er aber dennoch politisch durchgesetzt werden konnte – ohne nennenswerte Proteste aus der Professorenschaft.

Insofern hat der Maler Werner Tübke in seinem 1974 geschaffenen Gemälde „Arbeiterklasse und Intelligenz“ Lebenswelt und Selbstverständnis der Universität durchaus treffend dargestellt. Über 100 Mitglieder der Alma Mater werden abgebildet und in eine Beziehung gesetzt zur Arbeiterklasse. Dabei ist auch der Mann, der für die Voraussetzung dieses Bildes verantwortlich war, nämlich die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli: Paul Fröhlich, erster Sekretär der SED Bezirksleitung Leipzig. Das Gemälde von Werner Tübke war ein Auftragswerk des SED-Staates und sollte die Vollendung dessen darstellen, was Ziel der Kommunisten war: die Universität mit dem sozialistischen Einheitsstaat gleichzuschalten und kritisches Denken nur solange zuzulassen, wie es dem Arbeiter- und Bauernstaat dient.

So hat Tübke mit dem Bild u.a. eine sichtbare Einheit geschaffen zwischen denen, die – wie ein Paul Fröhlich – das Verbrechen der Sprengung der Universitätskirche zu verantworten, und denen, die sie - wie die Bauarbeiter - durchgeführt, und denen, die sie zugelassen hatten – wie all die Professoren, die auf dem Bild dargestellt sind. Fragt sich: Was ist mit den Studierenden? Sie bilden immerhin den hellsten Teil des Bildes. Aber eine eigenständige Größe sind sie nicht dargestellt - eher verspielt, als müssten sie auf Linie gebracht werden. An dieser Stelle ist das Bild noch am aktuellsten: Denn in der gegenwärtigen bildungspolitischen Debatte hat man als Außenstehender durchaus den Eindruck, dass der Studierende bei all den Exzellenzen, um die sich Universitäten bewerben können, ein Störfaktor ist, dass es auf ihn jedenfalls nicht ankommt – und dass die Frage: was für eine Persönlichkeit soll eigentlich nach sechs oder 10 Semestern eine Universität verlassen, kaum reflektiert wird. Insgesamt kann man nachvollziehen, was Erich Loest voller Zorn und Verachtung zu diesem Gemälde sagte: ein Bild über die Vernichtung der bürgerlichen Universität.

Jedoch: Was macht eine bürgerliche Universität aus? Ist es das, was Reinhard Minkewitz in dem von Erich Loest in Auftrag gegebenen Gemälde darstellt:

  • Studierende, die – auf den Trümmern von zwei Diktaturen stehend - gegen die gewaltsame Ausgrenzung des Andersdenkenden, für Vielfalt und Freiheit des Wortes eingetreten sind: Herbert Belter, Werner Ihmels, Wolfgang Natonek?
  • Ein Studentenpfarrer wie Georg-Siegfried Schmutzler, der nachdenklich auf die von den Kommunisten am 30. Mai 1968 gesprengte Universitätskirche im Hintergrund blickt und der das ausstrahlt, was er selbst einmal über seine Stasi-Haft zwischen 1957 und 1961 im Reflex auf eine verächtliche Bemerkung seines Bewachers „er stünde in der Zelle ‚wie ein Ölgötze‘“ geschrieben hat: „ein Atmen der Seele in der Freiheit des Daheimseins beim Gott“.
  • Hochschullehrer wie Ernst Bloch und Hans Mayer, die wie Bloch 1957 zwangsemeritiert wurden und nach dem Mauerbau die DDR Richtung Westen verlassen haben/mussten?

Wenn das mit Bürgerlichkeit gemeint ist, dass die Universität ein Ort des kritischen Diskurses, ein Ort der Freiheit, ein Ort der demokratischen Vielfalt, ein Ort, in dem sich Wissenschaft auch den letzten Fragen stellen kann, ist, dann lohnt sich für eine solche Universität jedes studentische Engagement – auch heute. Denn ohne dieses wird der Wissenschaftsbetrieb in sich erstarren.

Derzeit ist die Universität aus meiner Sicht aber weit davon entfernt, eine Keimzelle demokratischen Aufbruchs und der gesellschaftlichen Erneuerung zu sein. Ja, ich frage mich des Öfteren: Was ist aus dem Aufbruch 1968ff geworden – wohlwissend, dass 1968-West sehr anders aussah als 1968-Ost? Warum hat sich die Universität so schwer getan mit der Annahme des Gemäldes von Reinhard Minkewitz und mit der Akzeptanz der neuen Universitätskirche St. Pauli? Das Tübke-Gemälde wieder aufzuhängen, wurde nie infrage stellt, genauso wenig wie die Restaurierung des Marx-Refliefs. Dieses bronzene Machwerk war nach der Sprengung der Unikirche genau an die Stelle über den Haupteingang des Neubaus der Universität gesetzt worden, an dem sich der Ostgiebel der Unikirche, sozusagen das Kreuz, befand.

Wo war da der studentische Einspruch? Warum wurde nach 1989 von studentischer Seite nie die entscheidende ideologiekritische Frage gestellt: Wer malt und gestaltet (oder redet oder forscht) was, wann, wo, wie, für wen und wozu? Werner Schulz hat darauf hingewiesen, dass das Bild von Tübke nicht losgelöst von seiner äußerst problematischen Entstehungsgeschichte betrachtet werden darf, dass Ästhetik immer etwas mit Ethik zu tun hat und dass ein ideologisch verbrämtes Machwerk ein solches bleibt, auch wenn es als künstlerisch wertvoll erachtet wird. Denn mit diesem Gemälde wurde und wird all das ideologisch gerechtfertigt, was zur Sprengung der Universitätskirche, zur Zerstörung der Freiheit eines offenen Diskurses und zur gewaltsamen Ausgrenzung Andersdenkender geführt hat.

Damit rede ich nicht denen das Wort, die ein solches Werk in der Versenkung verschwinden oder ein Marx-Relief einschmelzen lassen wollen. Wohl aber plädiere ich für eine kritische Auseinandersetzung und ein ideologiekritisches Hinterfragen gesellschaftspolitischer Absichten der Kunst und der wissenschaftlichen Arbeit. An dieser Stelle wünschte ich mir mehr Biss in der Debatte. Denn die Frage ist nicht, wie viel Geld für die Restaurierung eines Marx-Reliefs oder den Neubau der Universitätskirche ausgegeben wird und was für dieses Geld segensreich für den Lehrbetrieb hätte geschaffen werden können. Vielmehr müssen wir deutlicher sagen können, was denn eine Universitätskirche, was ein solches Gemälde wie das von Tübke oder Minkewitz austrägt für den gesellschaftspolitischen Diskurs, welche Relevanz beides hat. Bild ist eben nicht gleich Bild und Raum auch nicht gleich Raum – und wissenschaftliche Arbeit ist nicht gleich wissenschaftliche Arbeit.

Ich wünsche mir die offene, öffentliche Debatte darüber, in wessen Interesse Universität heute arbeitet. Ich wünsche mir einen aktiven Part der Universität am gesellschaftspolitischen Diskurs. Ich wünsche mir einen kritischeren Umgang mit den sog. Drittmitteln. Ich wünsche mir eine offene, öffentliche Debatte über die Frage: Wer dient wem? Was tragen Forschung und Lehre zur politischen und demokratischen Bildung bei? Wie verantwortet sich heute Wissenschaft in und vor der demokratischen Gesellschaft? Es geht nicht darum, Drittmittelfinanzierung grundsätzlich zu verhindern – nur müssen Abhängigkeiten und Verwertbarkeiten offengelegt werden. Die Universität ist eine öffentliche Einrichtung. In Heidelberg steht über der Neuen Universität „Semper apertus“. Diese Offenheit muss gelebt werden und schreit geradezu nach Beteiligung aller Universitätsangehörigen.

Darum sollte es uns hellhörig machen, dass in der ganzen Debatte um das Tübke-Bild, um das Marx-Relief, um die neue Universitätskirche St. Pauli sie immer wieder aufblitzt: die Mär von der wertfreien, unpolitischen Wissenschaft. Als ob wissenschaftliche Arbeit sich von den gesellschaftlichen Bedingungen einfach lossagen oder diese verdrängen kann. Als ob es gleichgültig ist, in welchem politischen System sich wissenschaftliche Arbeit vollzieht. Nein, es darf keiner Wissenschaft gleichgültig sein, ob sie unter den Bedingungen der freiheitlichen Demokratie tätig ist oder einem Diktator dient. Wer hier einer Äquivalenz bzw. Äquidistanz das Wort redet, betreibt ein gefährliches Spiel, entpolitisiert den Wissenschaftsbetrieb und gefährdet gerade das, was er vorgibt zu verteidigen: die Freiheit des Forschens und Lehrens.

Darum zum Schluss noch drei Anmerkungen:

  • In meinen Augen ist es verheerend, dass sich derzeit zumindest in Sachsen die Universitäten als demokratiefreie Zonen darstellen. Feudalistisch geleitet von einem Honoratiorenclub genannt Hochschulrat, dem jede demokratische Legitimation fehlt, erscheinen die Hochschulen eher als Unterabteilung der Ministerialbürokratie als ein autonomer Wissenschaftsbetrieb. Wie sollen hier diejenigen ausgebildet werden, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten für die politische Bildung in einer freiheitlichen Demokratie Verantwortung tragen? Oder anders ausgedrückt: Ist nicht der bedenkliche Zustand in der Bevölkerung, die Bereitschaft demokratische Errungenschaften aufzugeben zugunsten von Nationalisierung und autoritären Abgrenzungen, Folge davon, dass es in den Universitäten der kritische Diskurs und demokratische Beteiligung verkümmert sind?
  • Erfreulich ist, wie stark sich das studentische Engagement für die Geflüchteten seit August 2015 entwickelt hat und wie präsent die Studierenden in der Auseinandersetzung mit Pegida/Legida sind. Ohne dieses Engagement sähe es uns unserer Stadt sehr anders aus. Darum können wir für das nachhaltige Wirken vieler Studierender nur dankbar sein. Was ich allerdings vermisse, dass dieses Engagement auch mit einer hochschul- wie gesellschaftspolitischen Perspektive versehen wird: etwas weniger Trillerpfeifen, Wummerbässe und Partys (so wichtig auch dieses ist), dafür mehr politischer Diskurs.
  • Dieser Mangel an gesellschaftspolitischem Diskurs im studentischen Engagement ist ein grundsätzliches Problem. Das hängt sicher auch mit den straffen Studienordnungen und einem absolut verschulten Studium zusammen. Aber da wäre dann dringend widerständiges Engagement vonnöten. Als ich im Sommer 1973 zum ASTA-Vorsitzenden der Universität Heidelberg gewählt wurde, sagte ich in einer Grundsatzrede: „Der Kampf gegen Studienreglementierung ist kein Feilschen um bürgerliche Freizeiträume, die der Arbeiter auch noch bezahlt, sondern soll politische Betätigung … als Bestandteil der Ausbildung ermöglichen.“ Das gilt es noch heute einzulösen.

(Christian Wolff, Pfarrer i.R. Beratung für Kirche, Politik und Kultur www.wolff-christian.de)