Zum Hauptinhalt springen

Ruth Misselwitz - Predigt im Montagsgebet am 11. Mai 2015 in der Nikolaikirche von Leipzig

Ruth Misselwitz

(3. Mose 19, 33-34)

500 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken,
3000 Flüchtlinge auf dem Meer gerettet,
unzählige Frauen und Kinder ertrunken -
völlig überfüllte Flüchtlingslager auf Lampedusa

die Litanei ließe sich endlos weiter aufzählen...

Schreckliche Bilder jeden Tag in der Zeitung und im Fernsehen
Entsetzen und Ratlosigkeit auf allen Seiten, bis hin zu Abwehr und Wut gegen alles,
was die Grenzen in unsere Hoheitsgebiete überschreitet.

Das Boot ist voll – so auch der Ruf von den Küsten Europas gegen die überfüllten Boote, die sich dem Land nähern.

Neben der Angst vor Überfüllung aber kennen wir auch die Angst vor dem Fremden.

Was sind das für Menschen, die da zu uns wollen?
Was für kulturelle Eigenarten, was für Religionen bringen sie in unser Land?

Angst vor Überfremdung und dem Verlust der eigenen Identität werden sichtbar.

Aber was für eine Identität haben wir denn?
Gibt es neben der kulturellen auch eine religiöse Identität?
Und nun geschieht etwas Verwunderliches - die Entdeckung der christlichen Religion.

„Wir sind ein christliches Land“ - höre ich die Menschen auf der Straße rufen.
„Unsere Traditionen kommen aus der jüdisch–christlichen Religion.“
Recht haben sie – stelle ich zustimmend fest.
Aber wissen sie auch, wovon sie reden?

„Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin euer Gott.“
(3. Mose 19, 33-34)

So lesen wir es im 3. Buch Mose des Alten Testamentes.

Die Aufnahme von Flüchtlingen und Fremden - die Gastfreundschaft war und ist ein hohes Gut in der jüdischen und christlichen Religion.

Die Propheten des Alten Testaments haben eindrücklich und nachhaltig immer wieder das Recht der Witwen, Waisen und Fremdlinge eingeklagt. Sie waren die schwächsten Glieder in der Gesellschaft, weil sie keinen Rückhalt in der Familie hatten.

Die Familie allerdings war Lebensversicherung – sie bot Schutz und Lebensunterhalt bis ins hohe Alter hinein.

Wer aber die Familie und alles Hab und Gut verloren hat, wie die Witwen, die Waisen und die Fremdlinge, war der Willkür und der Schutzlosigkeit im besonderen Maße ausgeliefert.

In den mosaischen Gesetzen aber galt den Hilfsbedürftigen, den Schwachen und an den Rand gedrängten Bevölkerungsgruppen eine besondere Aufmerksamkeit.

Der Gott Israels duldet es nicht, wenn die Starken den Schwachen das Recht beugen, denn vor Gott sind alle Menschen gleich.
Er ist der Schöpfer der Welt, in die er seine Geschöpfe, die Menschen, gestellt hat.

Ihnen allen hat er seinen göttlichen Hauch eingeblasen, sie kommen von ihm und gehen wieder zurück zu ihm.

So hat jeder Mensch - unabhängig von seiner Herkunft, seiner Religion oder seiner Kultur - den Kern der göttlichen Würde eingepflanzt bekommen.

Dass jeder Mensch diese Würde besitzt, ist Bestandteil des Menschenbildes in unserem Grundgesetz. Und dieses Menschenbild nährt sich aus den jüdisch–christlichen Vorgaben, die uns die Bibel überliefert hat im Alten und Neuen Testament.

In Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Liebe Schwestern und Brüder, seit Menschengedenken gibt es Völkerwanderungen und Flüchtlingsbewegungen.

Immer wieder wurden Menschen von ihrem Grund und Boden vertrieben, oder waren auf der Flucht vor Gewalt und Hunger.

Dass es dabei immer wieder Konflikte mit Zuwanderern und Einheimischen gab, davon berichten unzählige Geschichten aus allen Generationen.

Auch das Volk Israel hat in den 3000 Jahren seiner Existenz immer wieder Flucht- und Vertriebenengeschichten erlebt, Ausgrenzung und Abwehr erfahren.
Das letzte Jahrhundert gipfelte im nationalsozialistischen Holocaust. Flucht- und Vertriebenengeschichten hat die ältere Generation in unserem Volk auch am eigenen Leibe erfahren.

Und wie schwer es für viele Vertriebene war, im eigenen Volk Aufnahme und Akzeptanz zu gewinnen, erzählen noch heute viele Betroffene oder wir erfahren es aus Filmen und Büchern - insbesondere jetzt 70 Jahre nach Kriegsende.

„Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin euer Gott.“
(3. Mose 19, 33-34)

Dieses Gebot steht seit 2500 Jahren in unserer Bibel – es ist unzählige Male gebrochen worden, aber auch immer wieder von gläubigen und gottesfürchtigen Menschen befolgt worden.

Wenn heute hunderttausende von Menschen vor den Grenzen Europas stehen und bei uns Zuflucht suchen, dann haben wir als christliche Kirchen die Pflicht, uns erinnern zu lassen, was in unserer Bibel steht.

Wir haben keine politischen Lösungen für all diese Probleme, aber wir haben die Pflicht, auf die Not dieser Menschen aufmerksam zu machen und da zu helfen, wo es uns möglich ist.
Z.B. kirchliche leerstehende Häuser oder Wohnungen zur Verfügung zu stellen, Kontakt zu Flüchtlingen aufzunehmen, ihnen beizustehen beim Lernen der deutschen Sprache oder beim Besuch auf den Behörden.

Das, was wir tun können, ist eine Willkommenskultur zu entwickeln, die die Angst vor den Fremden überwindet und Eingliederungshilfen organisiert.

Neben den ganz praktischen Dingen, die wir vor Ort tun können, sollten wir aber auch mit offenen Augen das Weltgeschehen verfolgen und unseren europäischen Anteil an den Gründen für Hunger, Elend, Gewalt und Vertreibung benennen.

So sind die EU-Staaten einschließlich der USA und Russland erheblich in den Konflikten dieser Welt verwickelt durch machtpolitische Einflussnahme und direkte oder indirekte Waffenlieferungen, durch Wirtschaftsverträge, die zu Lasten der Entwicklungsstaaten gehen, durch eine Finanzpolitik, die Arm und Reich, Nord und Süd immer weiter auseinander treibt und das Elend auf dieser Welt immer mehr vergrößert.

Eine verantwortungsvolle globale Wirtschaftspolitik sichert nicht das Recht der Starken, sondern schützt das Recht der Schwachen vor den Starken.

Davon sind wir allerdings zurzeit weit entfernt.

Die derzeitigen Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen der EU und der USA – kurz TTIP genannt -, die geheim geführt werden, geben Grund zu der Befürchtung, dass hier das Recht der Starken gegen die Schwachen durchgesetzt werden soll.

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Leipzigerinnen und Leipziger, von dieser Kirche gingen vor mehr als 25 Jahren die Menschen auf die Straßen von Leipzig und trugen den Geist der Friedlichen Revolution in die Welt.

Wir waren damals getragen von dem Glauben, der Hoffnung und dem Willen, dass es eine friedliche und gerechte Welt geben kann.

Der Ruf „Keine Gewalt“ blieb nicht ohne Wirkung.

Wir haben allen Grund dafür dankbar zu sein.

Sorgen wir auch in Zukunft dafür, dass diese Hoffnung lebendig bleibt.

Und wenn die Menschen in diesem Land die christliche Religion wieder entdecken, dann werden sie nicht um dieses Gebot herum kommen, das uns in der Bibel überliefert ist, das den Schutz der Fremdlinge fordert.

Gemeinsam mit allen Menschen, gleich welcher Herkunft oder Religion, aber sind wir in diesem Land unserem Grundgesetz verpflichtet, das die Menschenwürde zu schützen hat, die Demokratie, die Freiheit und die Gerechtigkeit.

Amen.